Magazine / 11 October 2022

Tandaradei – Ein historischer Streifzug zu den Wurzeln deutschsprachiger Musik

Was haben Dichter des 12. Jahrhunderts mit Schlagern aus den 1970ern zu tun? Wir haben uns die Entwicklung der deutschsprachigen Musik genauer angesehen.

Mit einem fidelen „Tandaradei“ umschreibt der mittelalterliche Lyriker Walther von der Vogelweide in seinem wohl bekanntesten MĂ€dchenlied „Unter der Linden“ das kecke Liebesspiel zweier höfischer Turteltauben unter freiem Himmel. Einige Jahrhunderte spĂ€ter ist das Thema mit JĂŒrgen Drews‘ „Ein Bett im Kornfeld“ immer noch aktuell. Doch was haben Dichter des 12. Jahrhunderts mit Schlagern aus den 1970ern zu tun? Mehr als auf den ersten Moment ersichtlich ist, denn auch in einem liedermachenden Reinhard Mey, einem rappenden Sido oder einem walzenden Rammstein-Brecher stecken mittelalterliche Wurzeln.

TatsĂ€chlich ist die Geschichte der deutschen Sprache eng mit unserer nationalen Musikevolution verflochten. Deutschland war nicht immer ein „einig Vaterland“. Ganz im Gegenteil war der Raum, in dem die „tiutischin liute“ (deutschen Leute) lebten, territorial und damit politisch stark zersplittert, weshalb etliche unterschiedliche Dialekte parallel existierten. Die Reise von einem Dorf ins nĂ€chste konnte erhebliche VerstĂ€ndigungsschwierigkeiten mit sich bringen. Es ist mitunter den höfischen Dichtern und SĂ€ngern zu verdanken, dass die Entstehung einer universellen Landessprache im 12. Jahrhundert ihren (noch zögerlichen) Anfang nahm. Bis nĂ€mlich von einem einheitlichen „Tiutschland“ gesprochen werden konnte, mussten noch weitere gesellschaftliche wie politische Wandel angestoßen werden.

Der Choral wird weltlich

Bereits der Apostel Paulus verkĂŒndete, dass man sich „mit Psalmen und LobgesĂ€ngen und geistlichen Liedern“ ermuntern solle (Epheser 5,19). Dementsprechend war die Musik als Teil der sieben freien KĂŒnste im Mittelalter ein heiliges Pflichtfach. Durch die Christianisierung im FrĂŒhmittelalter traten die lateinischen GlaubensklĂ€nge ĂŒber die Klöster und Kirchen einen abendlĂ€ndischen Siegeszug an. Der Gregorianische Choral setzte sich als verbindliche und streng regulierte Form des liturgischen Gesangs durch. Einstimmig sollte er sein und frei von Instrumenten. Doch Kunst duldet keinen Stillstand. Schon im 9. Jahrhundert ist in der Lehrschrift „Musica enchiriadis“ Mehrstimmigkeit belegt. Auch die Erfindung und Weiterentwicklung der Notenschrift – von den rudimentĂ€ren Neumen bis zu Guido von Arezzos „vierliniger“ Notationsform – beschleunigte die weitere Entfaltung. Wurde Liedgut bisher hauptsĂ€chlich mĂŒndlich ĂŒberliefert, konnten Melodien nun mĂŒhelos auf schriftlichem Weg weitergegeben werden.

Doch auch die weltliche Musik erlebte in dieser Zeit einen enormen Aufschwung und emanzipierte sich von der Geistlichkeit. Aufgrund der sich etablierenden deutschen Sprache konnte einerseits auf lateinische Texte verzichtet werden, andererseits flossen mehr und mehr nicht-kirchliche Inhalte in die Werke ein.

Minne, Met und Mainstream

Die Stars der ersten deutschsprachigen Hits waren Lyriker und MinnesĂ€nger wie der ritterliche Hartmann von Aue oder der „dĂŒstersprachige“ Wolfram von Eschenbach. In ritualisierter Form wurde hier das holde Weib in mittelhochdeutscher Sprache besungen. Doch das stark idealisierte Werben um die Gunst einer Angebeteten, setzte sich nur an den Höfen durch. In den Tavernen wurden ganz andere Lieder getrĂ€llert. So berichtet die „Vagantenbeichte“ aus der Liederhandschrift „Carmina Burana“ von einem ausschweifenden Spielmannsleben. Auch der lebensfrohe Kosmopolit Oswald von Wolkenstein war im frĂŒhen 16. Jahrhundert dem weltlichen Genuss nicht abgeneigt. In seinem Trinklied „Herr Wirt, uns dĂŒrstet sehr!“ wird die Geschichte einer herzhaften Eskalation erzĂ€hlt, die mit GlĂŒcksspiel und Alkohol beginnt und mit einem deftigen „Paart euch, bewegt euch“ in einer heiteren Wirtshausorgie endet.

Mit den sogenannten Meistersingern formierte sich im 15. und 16. Jahrhundert ein zunftartiger Zusammenschluss gleichgesinnter Dichter und SĂ€nger. Sie fĂŒhrten unter strengen Reglements das Erbe des Minnesangs fort, rekrutierten sich jedoch nicht aus dem Adel, sondern waren meist Handwerker. Ihre regelmĂ€ĂŸigen ZusammenkĂŒnfte fanden meist in der örtlichen Kirche oder im Rathaus statt, spĂ€ter auch als so genannte „Zeche“ in WirtshĂ€usern. Einige von ihnen – wie der berĂŒhmte NĂŒrnberger Schuster Hans Sachs, der mehr als 4.000 Meisterlieder komponierte – gaben dabei eigenes Liedgut zum Besten; ein beachtlicher Teil huldigte allerdings lediglich dem tradierten Mainstream und sang was angesagt war.

Es geht voran

Auf diesem Fundament basierend, entwickelte sich die Musik stetig und rasend schnell weiter. Von den höfischen MinnesĂ€ngern aus, erwuchs in bester Meistersingermanier bereits Ende des 16. Jahrhunderts das Kunstlied, das im 19. Jahrhundert durch Franz Schubert, Robert Schumann oder auch Johannes Brahms zum „Deutschen Kunstlied“ avancierte. Gleichzeitig machte auch das weite Feld des Musiktheaters Fortschritte. Aus dem Jahr 1644 ist mit „Seelewig‘ die erste deutschsprachige Oper von Sigmund Theophil Staden ĂŒberliefert. Aber erst mit Wolfgang Amadeus Mozart setzte um 1780 eine langsame Abkehr von der dominierenden italienischen zur deutschen Sprache in den OpernhĂ€usern ein.

In den Wohnstuben, auf den MarktplĂ€tzen und in den GasthĂ€usern wurde dabei schon lĂ€ngst deutsch gesungen. Das Volkslied, in Abgrenzung zum Kunstlied, blĂŒhte mit der Reformation auf. Erste Liederhandschriften wie das Lochamer-Liederbuch (um 1460) oder Georg Forsters Liedsammlung „Frische teutsche Liedlein“ (1536-–1556) sind Zeitzeugen dieser Anfangstage. Johann Gottfried Herder ist es 1773 im Zuge des Sturm und Drangs und der darauf folgenden Romantik zu verdanken, dass das deutsche Volkslied als „unverfĂ€lschte Äußerungen der Volksseele“ umgedeutet und von dem schmuddeligen Ruf der Gassenhauer und Trinklieder befreit wurde.

Erst mit der Industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das deutsche Volkslied mehr und mehr von seiner hĂ€ufig idealisierten lĂ€ndlichen Kulturdarstellung und der romantisierten Heimatverbundenheit losgelöst und ging fließend in die Studenten- und Arbeiterlieder jener Zeit ĂŒber. Der Große Krieg (1914-1918) und der spĂ€ter um sich greifende Nationalsozialismus fĂŒhrten zu einer zunehmend politischen Rolle der deutschen Kunst. Sie gipfelte mitunter in den Widerstandsliedern eines Bertold Brecht – Musik als Instrument der Auflehnung und des moralischen Anprangerns.

Trotz der zunehmenden Globalisierung der Musikwelt und der damit einhergehenden Dominanz des Englischen, brachten das 20. und 21. Jahrhundert immer neue Facetten deutschsprachiger Musik hervor. Und bis heute wohnt jeder dieser gespielten Noten und jeder gesungenen Strophe ein kleines freches „Tandaradei“ inne.

Aber wie konnte es von Walther von der Vogelweide zu Bushido kommen? Was hat ein Liedermacher mit den Traditionen des Fahrenden Volkes zu tun? Jenem tief verwurzelten Erbe werden wir kĂŒnftig in weiteren Artikeln nachgehen und die klangliche Evolution hin zu einer beachtlichen stilistischen DiversitĂ€t genauer beleuchten.