Kunst findet immer einen Weg. Vorbei an Unterdrückung und einengenden Doktrinen. So musste sich die deutschsprachige Musik im Mittelalter erst gegenüber dem Lateinischen behaupten – eine Entwicklung, die eng mit der Entfaltung der deutschen Sprache selbst einherging.
Die dritte Etappe unserer Exkursion beginnt inmitten der Romantik, in der sich das Kunstlied zu neuen Höhen aufschwang. Die nachfolgende industrielle Revolution machte das Lied zum Sprachrohr des Volkes und die Weltkriege instrumentalisierten es bis zur propagandistischen Unkenntlichkeit. Und danach? Es folgte eine Ära des Musikbooms. Dekaden immer neuer Stil- und Ausdrucksmittel.
Niedergang und Winterreisen
Mit dem Voranschreiten der industriellen Revolution sah der Dichter und Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder sein verehrtes und romantisiertes Volkslied schwinden: „Die Reste aller lebendigen Volksdenkart rollen mit beschleunigtem Sturze in den Abgrund hinab.“ Denn der aufkeimende Kapitalismus und die damit einhergehende Umwandlung vom Agrar- zum Industriestaat veränderten auch das was, worüber und wie das Volk sang. Da die intellektuelle Elite aber gerade erst die ländliche Idylle für sich entdeckt hatte, war der Einschlag urbaner Elemente auch Dichtern wie Achim von Arnim, Clemens Brentano oder Heinrich Heine ein Dorn im Auge. So wurden dem Volk Lieder auf den Leib geschrieben, die niemals überliefertes Gut waren, sondern lediglich eine Tradition künstlich aufrechterhalten sollten. Zeugen dieser Entwicklung sind die drei berühmten Werke „Der Mond ist aufgegangen“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Am Brunnen vor dem Tore“ – bei Letzterem wurde Franz Schuberts Kunstlied „Lindenbaum“ mit einer eigens von Friedrich Silcher komponierten einfacheren Melodie versehen. Gerade aber Franz Schubert erweiterte neben seinen Kollegen Robert Schumann und Johannes Brahms, das Lied in außergewöhnlichem Maße. Seine beiden Liederzyklen „Winterreise“ (1827) und „Die schöne Müllerin“ (1823) dürften zu den Meilensteinen der Liedergeschichte zählen; alleine der barfuß auf dem Eise wankende „Leiermann“ ist immer wieder auch Motiv pop-kultureller Neuinterpretationen.
Die Maschinen erwachen
Die zivilisatorischen Umbrüche durch die industrielle Revolution ließen sich auch durch die Bestrebungen Herders und seiner Verbündeten nicht aufhalten. Den Niedergang ihrer schönen heilen Welt dokumentierte die dreiteilige Liedersammlung „Deutscher Liederhort“ (1893-94) eindringlich – das schutzbedürftige Volkslied benötigte bereits einen Hort, ein Refugium. Der idealisierenden Obhut seiner Schirmherren entledigt, wurde das Volkslied umgedeutet und frei bearbeitet. Die Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen“ hatte keinesfalls den Erhalt alten Liedgutes im Sinn, sondern passte die Überlieferungen ganz dem Geschmack und Zeitgeist des 19. Jahrhunderts an. Sowohl die Melodien als auch die Texte wurden modifiziert und teilweise zu gänzlich neuen Werken kombiniert. „Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unser weit und breit“ ist etwa kein „wahrhaftiges“ Volkslied aus mittelalterlichen Gefilden, sondern basiert auf einer Volksweise aus dem 18. Jahrhundert, die von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio bearbeitet und mit einem eigenen Text versehen wurde. 1884 fand es eine weite Verbreitung durch das „Preußische Soldatenliederbuch“ und nach 1918 erneut durch die Wandervogelbewegung. Heute zählt es zu den bekanntesten deutschen Volksliedern.
Mit der Industrialisierung wurde der Arbeiter vielerorts zum „Lohnsklaven“. Rechte galt es in den sich immer schneller und schneller drehenden Kapitalismusmühlen erst zu erkämpfen. Das aus diesem Ringen entstandene Arbeiterlied selbst greift auf ein historisches Erbe zurück, auf Melodien von Sklaven, Unterdrückten und Sträflingen. Dabei sind „worksongs“ im weitesten Sinne kein Phänomen des Imperialismus oder des Kolonialismus; schon in der altisländischen Dichtung „Gróttasöngr“ aus dem 13. Jahrhundert, die von den Tätigkeiten in einer magischen Mühle handelt, ist ein Arbeitslied enthalten. Dieses hat aber nur wenig gemein mit den politischen Kampfliedern der bürgerlichen Revolutionen. Eines der wohl populärsten Lieder der Arbeiterbewegung, „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, geht auf ein russisches Arbeiterlied aus den Jahren 1895/96 zurück, das auf der Melodie eines ebenfalls russischen Studentenliedes fußt. Die eingedeutschte Fassung von Hermann Scherchen besingt eine bessere Zukunft, die als hoffnungsvolles Leuchten aus der Dunkelheit führt: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Licht empor! Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor.“
Aus den Schatten
Doch es sollte keine „leuchtende Zukunft“ geben. Das mittelalterliche Erbe deutschsprachiger Musik wurde während der „Großen Kriege“ stark instrumentalisiert. Im Ersten Weltkrieg kümmerte sich die eigens eingerichtete Musikalische Gruppe im Kriegspressequartier des kaiser- und königlichen Kriegsministeriums darum, Künstler für die Propaganda zu gewinnen. Traditionelles Liedgut wurde zur Legitimation des Kriegsgeschehens umgedeutet, während die Moral an der Front gezielt mit musikalischen Veranstaltungen unterstützt werden sollte. Auch in der Propaganda des Nationalsozialismus spielte die Musik eine wichtige Rolle. Joseph Goebbels übte über die Reichskulturkammer eine rigorose Kontrolle über das deutsche Kulturleben aus. Nicht-regimekonforme Künstler und ihre „entartete Musik“ sollten gänzlich aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Die noch junge Schallplattenindustrie wurde verstaatlicht, was die Gleichschaltung der Kunst weiter vorantrieb. Doch wie schon zu Zeiten des Gregorianischen Chorals (siehe Teil 1 der Reihe ), konnten Dogmen die freie Entfaltung der Kunst zwar behindern, aber nicht gänzlich unterbinden. So versuchten die Nazis auch, Marlene Dietrich für Hitlers Propagandamaschinerie zu gewinnen, aber ohne Erfolg. Die Sängerin und Schauspielerin hatte sich bereits mit „Der blaue Engel“ 1930 zur Stilikone aufgeschwungen und erfreute sich auch außerhalb Deutschlands großer Beliebtheit. Das für den Streifen komponierte „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ wurde zu einem internationalen Hit und die „Femme fatale“ zu einer unbeugsamen Vorreiterin der Frauenbewegung. Goebbels lockte sie mit hohen Gagen, freier Drehbuchwahl und anderen Annehmlichkeiten in „Reih und Glied“, stattdessen nahm sie 1939 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und unterstützte die US-Truppen mit ihrer Musik.
Mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 wurde Deutschland vom Nationalsozialismus befreit. Die Stunde Null ermöglichte einen Neuanfang, vor allem auch für die Musik. Aber die Schrecken und Verbrechen des Hitler-Regimes lasteten schwer auf der deutschen Seele. Während in der Klassik und den Folgeströmungen des Kunstliedes eine kritische Hinterfragung und Neuausrichtung der Kunst generell stattfand, wurde der Schlager als leicht eingängige Unterhaltungsmusik zum Lieblingskind Nachkriegsdeutschlands. Niedergebrannten Häusern, getöteten Familienmitgliedern und Schreckensbildern aus den Vernichtungslagern wurde eine schöne, heile Welt entgegengesetzt. Der Blick richtete sich auf die Zukunft, auf den Wiederaufbau. In der noch jungen Bundesrepublik wurden Rundfunkstationen wiedereröffnet und auch die Plattenindustrie fuhr ihre Produktion wieder hoch.
Friede, Freude, Wirtschaftswunder
Das närrische Fastnachtstreiben stand sinnbildlich für eine neue Ausrichtung der Musik. So trällerte sich Jupp Schmitz 1949 mit seinem auf Schellackplatte veröffentlichten Karnevalslied „Wer soll das bezahlen?“ in die Herzen der Westdeutschen. Und bis heute dürfte diese Anspielung auf die Währungsreform im Juni 1948 einer der meistgesungenen Schlager überhaupt sein.
Die Musik verkörperte das Lebensgefühl jener Tage in der BRD. Mit der schnelleren Verbreitung durch heimische Plattenspieler und vielgestaltige Rundfunksendungen ging auch das Aufleben der Abend- und Tanzveranstaltungen einher. Um den gewaltigen Klangdurst des Auditoriums zu stillen, wurde auch der österreichische Markt herangezogen und Maria Andergast gab zu sanfter Streicherbegleitung „Du bist die Rose vom Wörthersee“ mit einem heiteren „Holliolijohihi“ zum Besten. Die erste Goldene Schallplatte der Nachkriegszeit in Deutschland erhielt René Carol 1954 für mehr als 500.000 verkaufte Singles von „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“. Ein Jahr zuvor galten solche Verkaufszahlen in Deutschland noch als illusorisch. Freddy Quinn sollte nur zwei Jahre später mit „Heimweh“ diese Hürde erneut mühelos überspringen. Besang der Österreicher hier sehnsüchtig die schöne Zeit in der vertrauten Heimat, ließ er den Blick bald darauf mit dem Evergreen „La Paloma“ von seinem Erfolgsalbum „Auf hoher See“ in die Ferne schweifen. Der Traum von der verlockenden und abenteuerlichen Reise in die Fremde mauserte sich mit Hits wie Lolitas „Seemann, deine Heimat ist das Meer“ zu einem neuen Trend – und auch diese romantisierende Strömung ist Teil unseres mittelalterlichen Erbes. Die Schlagerkiste rollte auf Hochtouren. Und mit ihr das Wirtschaftswunder. Kein Lied fing den damaligen Zeitgeist besser ein als der „Konjunktur-Cha-Cha“ des Hazy-Osterwald-Sextetts aus dem Jahr 1961. Die Textzeile „Geh’n sie mit der Konjunktur“ verkörperte nicht nur den massiven ökonomischen Aufschwung der Bundesrepublik, sondern verkündete auch die kapitalistische Agenda.
Doch dem westdeutschen Schlager standen schwere Zeiten bevor. Die voranschreitende Globalisierung und die sich ändernden gesellschaftlichen Strukturen sorgten für spürbare Orientierungsprobleme. Nichtsdestotrotz konnten sich deutschsprachige Künstlerinnen und Künstler mitunter lautstark behaupten und sogar ein neues Selbstbewusstsein erlangen. Die „Musik der jungen Leute“ wurde wieder politischer und die Tage der „schönen heilen Welt“ waren irgendwann gezählt. Und der Ostrock? Welche Rolle spielte Musik in den vier Dekaden der Deutschen Demokratischen Republik? Das und mehr zu den folgenden turbulenten Dekaden deutschsprachiger Musikgeschichte in den nächsten Teilen der Reihe.