"Wir zäumen also das Pferd regulativ von hinten auf"

In der Abstimmung zum Urheberrecht vom 5. Juli hat sich eine knappe Mehrheit der Europaabgeordneten dafür ausgesprochen, die weiteren Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission vorerst nicht aufzunehmen. Die Empfehlungen des Rechtsausschusses sollen im September erneut beraten werden. Stefan Herwig beleuchtet die aktuelle Diskussion im Interview.

Herr Herwig, als ehemaliger Labelbetreiber (Dependent) und Gründer des Internet Think Tank Mindbase verfolgen Sie die Debatte über das Urheberrecht und die Verantwortung von Online-Plattformen seit Jahren. In einem viel beachteten Debattenbeitrag in der Musikwoche haben Sie kürzlich ein „neues Internetnarrativ“. Was meinen Sie damit?
Naja, damit meine ich, dass sich das bestehende Internetnarrativ der Netzaktivisten, hinsichtlich eines unregulierten Netzes und einer „Freiheit der Information“ schon seit geraumer Zeit überlebt hat. Wenn man sich die Auswirkungen anschaut, die von den Enthüllungen Edward Snowdens reichen, bis zu den erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die eine ungezügelte Plattformökonomie mit sich bringt, wie mehrfach versagende Märkte, eine überbordende Big Data Ökonomie die im Extremfall zur Auflösung unserer aller Privatsphäre führen kann, bis hin zur Auswirkung der großen Plattform-Algorithmen auf unsere demokratische Verfasstheit. Das „alte Internetnarrativ“ erkennt diese Probleme nicht nur nicht, es hat nicht ansatzweise Konzepte dagegen, wie wir diese Entwicklungen gesellschaftskompatibel abfedern können.

Das EU-Parlament wird sich voraussichtlich am 12. September erneut mit der Modernisierung des Urheberrechts befassen. Worum geht es bei der geplanten Reform und wie bewerten Sie die aktuelle Diskussion?  
Die Urheberrechtsnovelle geht zu einem großen Teil die richtigen Probleme an, insbesondere die Marktverzerrung (bzw. das sog. „Value Gap“) durch die Privilegierung der Plattformen. Ich bin aber skeptisch, ob es sinnvoll ist, die Urheberrechtsnovelle vor eine Öffnung der E-Commerce Richtlinie zu platzieren, weil nämlich die Martkverzerrung ihren Grund dort hat. Wir versuchen also unter Beibehaltung des dysfunktionalen Haftungssystems eine Grundlage für funktionierende Märkte zu schaffen. Auch wenn die Novelle sehr gute Ansätze zeigt, und die richtigen Probleme adressiert, so bin ich skeptisch, ob dass der optimale Weg ist. Wir zäumen also das Pferd regulativ von hinten auf.

Warum tut sich die Politik so schwer damit, Online-Plattformen in die Verantwortung zu nehmen, von denen einige mittlerweile zu den größten Unternehmen der Welt gehören?
Ich glaube viel hat damit zu tun, dass die Politik selbst Opfer falscher Digitalnarrative geworden ist. Wir glauben pflichtbewusst, dass wir in Europa eine digitale Revolution verschlafen haben, deren größte Vertreter wie Amazon, Google und Facebook halt allesamt US—Unternehmen sind. Das ist ein Digitalnarrativ, das in den letzten zehn Jahren massiv der ITK-Industrie gestreut wurde: Bloß nichts regulieren, weil das schlecht für europäische Startups und die Digitalisierung per se sei. Was uns leider nicht aufgefallen ist – weder in Brüssel noch in Berlin - ist, dass sich das amerikanische Produktionswachstum  parallel zu den Siegeszügen der großen Plattformbetreiber in Nordamerika VERLANGSAMT hat (Siehe auch die die Erkenntnisse des amerikanischen Makroökonoms Robert J. Gordon 2013 - 2016). Daher stehen wir nun vor einem Regulationsvakuum, das Ergebnisse sind mehrfach versagende Märkte. Der englische Wirtschaftshistoriker Robert Chancellor schrieb schon 2012 in der Financial Times: „Die Digitalisierung hat uns zwar eine Handvoll neue Milliardäre im Silicon Valley beschert, aber nichts getan um das mittlere Haushaltseinkommen in den USA zu steigern, dass seit Jahren stagniert.“ Das Ergebnis ist das Gegenteil von dem was wir soziale Marktwirtschaft nennen, die braucht nämlich als erste Bedingung funktionierende Märkte. Der amerikanische Ökonom Prof. Scott Galloway sagte kürzlich dazu: „Die Idee in den USA eine Million Millionäre zu schaffen, haben wir über Bord geworfen, anstatt dessen versuche wir, den ersten BILLIONÄR zu erschaffen – auf Kosten aller anderen.“ Auch er predigt mehrfach, dass wir schon einen Zeitlang auf ein eklatantes Marktversagen zusteuern. Die Zeichen sind kaum mehr zu ignorieren, dass die Digitalpolitik der letzten Dekade massiv fehlerbehaftet war. Uns wird noch dämmern, dass es eine wertschöpfungstechnisch ziemlich blöde Idee war die Plattformen zuungunsten der Inhaltewirtschaft zu privilegieren und zu subventionieren. 7 der 10 größten Wirtschaftsmarken der Welt sind Technologie und Plattformunternehmen wie Google, Facebook, Amazon Baidu und Tencent. Die Plattformen fressen einfach alles auf, denn der Politik ist es nicht gelungen, die großen Technologieunternehmen sinnvoll in die „Restökonomie“ einzugliedern.