„Wir werden die Situation nur gemeinsam lösen.“

Am 19. September wurde die Studie „Gender in Music“ veröffentlicht, die sich mit dem Geschlechterverhältnis im Musikbusiness beschäftigt. Wir haben mit Anna Groß von der MaLisa Stiftung und Matthias Dengg von der GEMA über das Thema „Gender-Fairness“ gesprochen.

Die Studie „Gender in Music“ wurde von der MaLisa Stiftung, der GEMA und dem Verband Music S Women* durchgeführt. Die Ergebnisse: ernüchternd. Nur ein Beispiel: An allen im Jahr 2019 angemeldeten Werken waren nur sechs Prozent Frauen beteiligt – und das, obwohl sich die Anzahl der jeweils neugemeldeten Werke innerhalb des Jahrzehnts fast verdoppelt hat. Doch wie kann man dieser Schieflage am besten begegnen? Und wie stellt sich die GEMA zu dem Thema auf? Wir haben Anna Groß von der MaLisa Stiftung und Matthias Dengg von der GEMA zum Gespräch getroffen.

Hallo ihr beiden. Wie geht es euch denn? Haben euch die Ergebnisse der Studie überrascht, enttäuscht oder eher in eurer Meinung bestätigt?

Anna Groß: Tatsächlich haben mich die Ergebnisse der Studie negativ überrascht. Wir haben in dieser Analyse nicht nur die Charts, sondern auch die Werkanmeldungen betrachtet – in der Hoffnung, dieser Bereich könnte besser abgeschnitten haben. Aber ehrlich gesagt sieht es anders aus: Es gibt immer mehr Werke, aber immer weniger Frauen. Das ist schon sehr ernüchternd.

Matthias Dengg: Ich hatte bereits 2016 und 2021 mit dem Bayerischen Rundfunk ähnliche Analysen erstellt. Schon damals hatte sich im Zeitraum von fünf Jahren nicht wirklich etwas verändert. Dass die Analyse von 2022 wieder so negativ aussieht, habe ich zwar befürchtet, aber dass die Zahlen derart schlecht für den Frauenanteil ausfallen, ist wirklich enttäuschend.

Denkt ihr, die Ergebnisse decken sich mit der Einschätzung von Brancheninsidern?

Anna Groß: Wir haben letztes Jahr zusammen mit der Initiative Keychange eine Studie veröffentlicht. Darin wurden Männer und Frauen aus der Branche gefragt, was sie über die Chancengleichheit der Geschlechter denken. Und – Überraschung – Männer nehmen die Branche ganz anders wahr als Frauen. Männer haben das Gefühl, das alles sei schon relativ ausgeglichen. Frauen hingegen sagen, die Situation sei überhaupt nicht so und habe sich in den letzten fünf Jahren auch nicht wirklich verbessert. Wir werden die Situation nur gemeinsam ändern können, die Schieflage wird sich nicht von allein in Luft auflösen. Wir haben viele Ideen, wie man das Thema angehen könnte. Und es gibt bereits viele Good-Practice-Beispiele, wie zum Beispiel die Einführung einer Frauenquote beim Radioprogramm WDR COSMO .

Hast du spezielle Personen oder Institutionen im Blick, von denen du denkst, sie könnten speziell etwas für Frauen tun?

Anna Groß: Ja – jeden Mann im Business!
(allgemeines Lachen und Applaus)

Matthias Dengg: Ein Missstand ist ja ein Missstand, egal ob darüber geredet wird oder nicht, ob er bekannt ist oder nicht. Aber ein Missstand, der nicht thematisiert wird, an dem wird sich natürlich nie irgendetwas ändern. Deshalb finde ich es so wichtig, dass man dieses Missverhältnis thematisiert, thematisiert, thematisiert – bis es anfängt, kein so schlimmes Missverhältnis mehr zu sein. Aber auch dann muss man es weiter beobachten.

In diesem Zusammenhang hört man oft den Begriff „Buddy Business“. Glaubt ihr, dass der Zusammenhalt der Männer eine der Hauptursachen für den geringen Frauenanteil in der Musik ist?

Anna Groß: Ja, und das kann ich bestätigen. Bei der Studie, die wir im vergangenen Jahr in Kooperation mit Keychange durchgeführt haben, ist herausgekommen, dass die größten Barrieren nicht fehlende Role Models sind, sondern tatsächlich Vetternwirtschaft und Seilschaften unter Männern. Also, wenn mit dem Kumpel Deals abgeschlossen werden, so nach dem Motto „Hey, lass doch mal die Band noch mit auftreten, dann kriegste die andere günstiger“, dann überlegen sich viele leider nicht, ob sie überhaupt Frauen auf der Bühne haben. Und so läuft vieles in der Musikbranche, abends beim Bierchen und nicht in offiziellen Meetings. Solange wir diese Strukturen weiter beibehalten, wird es schwierig, etwas zu verändern. Deswegen ist es wichtig, über das Thema Buddy-Business nachzudenken, zu überlegen, wie machen wir Deals, wo entstehen die Entscheidungen in der Branche und wie könnten wir auch anderen Leuten die Türen öffnen.

Matthias Dengg: In der Musikbranche musst du sehr pragmatisch und effizient sein, sonst verlierst du Geld. Wenn du unter Druck arbeitest und schnell eine Lösung für ein Problem brauchst, dann schaust du als erstes auf die drei Buddys neben dir, von denen einer wahrscheinlich dein Problem lösen könnte. Aber genau das schafft dieses Problem. Wir alle sollten die Extrameile gehen und das Problem lösen, ohne immer auf den nächsten Kumpel zurückzugreifen.

Diese Schieflage ist ja schon länger bekannt. Gab es in der Vergangenheit zu wenige oder die falschen Initiativen?

Matthias Dengg: Die Schieflage betrifft ja nicht nur die Musikbranche und nicht nur Deutschland – wir reden über einen gesamtgesellschaftlichen, weltweiten Missstand. Ein großes Problem, das auch in der Musik sichtbar wird. Ehrlich gesagt bin ich auch über viele Jahre hinweg sehr unsensibel mit diesem Thema umgegangen.

Anna Groß: Ich glaube, es gibt nicht genug Initiativen. Und die, dies es gibt, schieben zwar einiges an, werden aber von der Branche nicht besonders stark unterstützt. Dadurch, dass vieles privatwirtschaftlich läuft und wenig über Fördergelder, ist es auch so schwer, über politische Maßnahmen einzugreifen. Es braucht verschiedene Initiativen, die an verschiedenen Stellen ansetzen, auf die Branche einwirken und aus der Branche herauswirken. Wir als MaLisa Stiftung sind froh, Teil eines wachsenden Netzwerks zu sein und auch die Branche mit unserer Arbeit zu begleiten und zu unterstützen.

Welche Initiativen haben schon gegriffen – und warum?

Anna Groß: Mit der 50:50-Quote, einer Idee von Keychange, wurden Festival-Bookings verändert. Das zeigt: In dem Moment, in dem wir uns etwas vornehmen, setzen wir uns auch eine Aufgabe, ein Ziel, das wir dann im Blick behalten. Und es wirkt. Wir haben festgestellt, dass Festivals, die diese Quote unterzeichnet haben, schon einen höheren Frauenanteil aufweisen konnten. Eine Initiative, die wichtige Arbeit leistet und noch mehr Sichtbarkeit verdient, ist auf jeden Fall Music Women* Germany, der bundesweite Dachverband aller Musikfrauen* in Deutschland.

Kratzen Initiativen wie eine Quote nicht zu sehr an der Oberfläche? Brauchen wir Ideen, die tiefer greifen?

Anna Groß: Irgendwo muss man anfangen. In dem Moment, wo Festivalbetreibende eine Quote einführen, können sie nicht sagen, „Hör mal, Thomas, wie viel Ralfs kann ich denn noch auf meine Bühne buchen?“, sondern „Oh, jetzt habe ich eine Quote, da muss ich ja vielleicht noch eine Sabine oder Cima dazu holen.“ Es ist ja nicht so, dass es keine gute Musik von Frauen gibt, aber ohne Quote suche ich diese Musik auch nicht. Wenn es aber eine Quote gibt, denke ich darüber nach, welche Frauen ich buchen könnte, und so kriegen auch die eine Chance. Deswegen: Quote hilft. Das ist übrigens auch wissenschaftlich erwiesen.

Welchen Tipp würdet ihr Frauen in der Musikindustrie geben, um sichtbarer werden?

Anna Groß: Ich glaube, das Wichtigste ist, dass sich die Frauen in der Branche miteinander vernetzen. Wenn sie wissen, dass auch andere die Erfahrung machen, nicht weiterzukommen oder sich unzulänglich fühlen, merken sie relativ schnell, dass es nicht an ihnen selbst liegt, sondern an den Strukturen. Dann können sie diese Strukturen adressieren und sich empowern, etwa zusammen mit anderen Frauen weiterzukommen. Kleines Beispiel: Ich bin Singer-Songwriterin und habe ein total gutes Gefühl zu meiner Musik. Mein Produzent ist ein Mann, mein Label setzt sich aus Männern zusammen und im Tonstudio, wo ich meinen Song aufnehmen will, sitzt ein Mann an der Technik. Und die finden alle, ich sollte doch mal ein anderes Kleid anziehen, dann sähe das Pressefoto schöner aus. Oder ich könnte vielleicht ein bisschen höher singen, damit der Sound irgendwie weiblicher ist. Das mag bescheuert klingen, aber solche Sachen passieren. Wenn ich aber von anderen Frauen erfahre, denen es auch so ergangen ist, kann ich in ein anderes Studio gehen, wo ein bisschen mehr drauf geachtet wird, wie ich mich als Frau allein am Mikrofon fühle. Vielleicht haben die sogar eine Tontechnikerin oder eine Frau im Mastering – sowas kann helfen. Und noch eine wichtige Sache: Seit Anfang 2022 gibt es „Themis“, die Vertrauensstelle für Betroffene von sexueller Belästigung und Gewalt in der Musikbranche.

Matthias Dengg: Ich tu mich immer wieder schwer damit, zu sagen, „Es gibt ja auch Frauen, die es geschafft haben.“ Diesen Vergleich finde ich nicht gesund. Denn es gehört bei allen – Männern wie Frauen – auch viel Zufall und Glück dazu, ob etwas erfolgreich wird. Aber für Frauen ist es deutlich härtere Arbeit. Deshalb: Nicht verzweifeln, nicht aufhören, einfach weitermachen.

Was könnte speziell die GEMA zum Thema Frauenförderung beitragen?

Anna Groß: Sich beispielsweise überlegen, wie sie mehr Frauen für Ämter oder mehr ordentliche weibliche Mitglieder gewinnt, also wie sie diesen Strukturen etwas entgegensetzt. Dazu gehört vor allem die Frage, wie man potenzielle weibliche GEMA Mitglieder erreicht. Müssen sie sich erst einmal gegen alle Männer durchsetzen? Wer hat wieviel Redezeit in Veranstaltungen und Meetings? Sind alle Urheberinnen wirklich angemeldet mit ihrem Beitrag zur Musik? Werden Frauen von allen Mitgliedern ernst genommen? Welche Anreize werden geschaffen, die so ein Amt attraktiv machen? Können sich auch Menschen engagieren, die gerade an ihre Familie gebunden sind?

Matthias Dengg: Die GEMA bildet die Branche und die Verhältnisse darin nur ab. Das bedeutet, dass wir selbst zum Beispiel keine Quote bei der Neuaufnahme von Mitgliedern einführen könnten und dürfen, um so das Geschlechterverhältnis möglichst schnell auszugleichen. Wir alle sollten uns aber immer wieder die Frage stellen, was wir tun können, um eine Musikbranche zu gestalten, die für alle gleichermaßen offen ist. Unser Ziel muss sein, den Anteil von Frauen in allen Gremien zu stärken, sodass sich mehr Frauen trauen, sich für Wahlen aufstellen zu lassen, sich in Ämtern zu engagieren und Männer ihre Netzwerke teilen und öffnen. Das ist übrigens auch Bestandteil unserer Satzung.

Zum Abschluss noch eine hypothetische Frage: Wenn wir dieses Gespräch in drei bis fünf Jahren noch einmal führen würden, was glaubt ihr, hat sich bis dahin geändert?

Anna Groß: Bis dahin sind hoffentlich die Zahlen ein bisschen besser geworden, weil sich alle mal an die eigene Nase gefasst und sich gefragt haben, was sie in der Kulturbranche dazu beitragen können, dass das gesamte, bisher ungenutzte kreative Potenzial von Frauen und nichtbinären Personen auch sichtbar und hörbar wird und dadurch die Branche trotz Krise auch zukunftsfähig bleibt.

Vielen Dank, Anna und Matthias für das interessante Gespräch.

 

Hier geht‘s zur Studie „Gender in Music“

Studie der MaLisa Stiftung mit der Initiative Keychange.

 

Auszug aus den Studienergebnissen (c. MaLisa Stiftung)