»Irgendwelche suggestiven Klänge unter bewegte Bilder zu legen, ist heute mit all den elektronischen Mitteln überhaupt kein Problem mehr. Das kann jeder. Mit Komponieren hat das nichts zu tun.«, so Ennio Morricone. Komponist Andreas Weidinger stellt in seinem Gastbeitrag die Frage nach dem Sinn und dem Wert von Musik im Film.
»Irgendwelche suggestiven Klänge unter bewegte Bilder zu legen, ist heute mit all den elektronischen Mitteln überhaupt kein Problem mehr. Das kann jeder. Mit Komponieren hat das nichts zu tun.« Dieser Satz stammt von keinem geringeren als Ennio Morricone und war eine der Kernbotschaften eines Vortrags, den der Maestro 2003 anlässlich seiner Ernennung zum Ehrensenator vor Studenten der Musikhochschule München hielt.
Vor 15 Jahren bezog sich dieser Satz noch hauptsächlich auf die ästhetischen Konsequenzen einer fortschreitenden Digitalisierung des musikalischen Schaffensprozesses. Heute - in Zeiten, in denen computergenerierte multimediale Erscheinungsformen längst in jeder Kunstform verankert sind - bekommt er eine noch grundsätzlichere Dimension. Denn er stellt nichts weniger als die Frage nach dem Sinn und dem Wert von Musik im Film.
Wirkung ist Währung
Um es gleich vorweg zu sagen: Der Wert von Filmmusik definiert sich nicht über das musikalische Material und seine handwerkliche Ausgestaltung. Schon gar nicht definiert er sich über den Umfang der Musikproduktion. Sie beide sind nur Mittel zum Zweck. Der wahre Wert von Filmmusik liegt in ihrem Wirkungspotential, nicht in ihrer Gestalt.
Wer sein Werk einem Publikum zur Rezeption übergibt, gibt die Kontrolle darüber auf. Was nun geschieht, ist Wahrnehmung; was bleibt, ist Wirkung. Dieser Konsequenz kann sich kein/e KünstlerIn entziehen. Für Filme gilt das ganz besonders. Sie werden geschaffen, um sie einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu präsentieren. Da ein Film immer aus der dem Zusammenspiel mehrerer Gestaltungsebenen besteht, stellt sich jedem/r am Schaffungsprozess Beteiligten die Frage nach der Wirkung des eigenen Beitrags auf das Gesamtwerk und damit auf das Publikum. Wirkungsorientierte Filmgestaltung ist daher sowohl eine Selbstverständlichkeit als auch eine Notwendigkeit, nicht nur bei hochkommerziellen Produktionen.
Die Tonebene - und in ihr besonders die Musik - spielt dabei eine herausragende Rolle. Sie ist konstitutiv und manchmal sogar ursächlich für die emotionale Verdichtung einer Geschichte. Sie kann das Erleben des Publikums auf einer nicht-rationalen, nicht-stofflichen Ebene auf eine Weise intensivieren, die das Bild alleine so nie erreichen kann. Sie kann die Herzen des Publikums ohne Umwege über das Großhirn direkt berühren.
Ganz nebenbei schafft Musik in der Verbindung mit Bildern aber auch etwas sehr Greif- und Zählbares. Nämlich einen emotionalen Mehrwert, der sich, wenn man daran interessiert ist, auch monetarisieren lässt. Die Erfolge von Plattformen wie YouTube sind zu einem ganz wesentlichen Teil darauf zurückzuführen. Die dort angebotenen Inhalte stellen in vielerlei Hinsicht einen Mehrwert für die Zuschauer dar. Zum Beispiel einen Mehrwert an Ablenkung, Unterhaltung oder Information. Für den emotionalen Mehrwert aber sorgt die Musik. Man muss kein Intellektueller sein, um zu verstehen, dass die Attraktivität solcher Plattformen ohne die Nutzung von Musik massiv leiden würde. Buchstäblich jedes Video im Internet ist mit Musik unterlegt und das nur mit dem einen Ziel: Wirkung zu erzielen und damit Aufmerksamkeit zu generieren. Denn Aufmerksamkeit ist die Währung des 21. Jahrhunderts.
Das Netz ist nicht der Ort der leisen Töne
Wenn Wirkung zur Währung wird und sich die Vertriebs- und Rezeptionswege massiv ins Internet verschieben, hat das für den Wert von Filmmusik gravierende Folgen.
Die unüberschaubare Masse an jederzeit und überall zugänglichen Werken erzeugt ein multimediales Grundrauschen, das es extrem erschwert, überhaupt die Aufmerksamkeit des Publikums zu bekommen. Sie erzeugt außerdem einen Konsumdruck, der die Bereitschaft des Publikums, sich auf Inhalte wirklich einzulassen, extrem verringert. Es geht nicht mehr darum, sich umfassend mit einem Werk auseinanderzusetzen, sondern nur noch darum, möglichst viel möglichst schnell zu konsumieren. Binge-Watching ist der Trend der Stunde.
Trotz (oder wegen?) des immer höheren Medienkomsums wird die Aufmerksamkeitsspanne in manchen Altersgruppen geradezu pulverisiert. Für Filme und insbesondere die Musik bedeutet das, dass sie so schnell wie möglich die Aufmerksamkeit des Publikums erringen und sie so effektiv wie möglich erhalten müssen, wenn sie am existierenden Markt der Filme und Serien nennenswert partizipieren wollen. Die leisen und vorsichtigen Stimmen, die bedachten Konzepte, die differenzierte Betrachtung von Themen haben es immer schwerer, in der Öffentlichkeit Gehör und einen Platz zu finden. Dabei bräuchte die Gesellschaft sie im Moment nötiger denn nie. Die großen gesellschaftlichen Debatten der letzten Zeit, nicht zuletzt die Debatte um die geplante Urheberrechts-Richtlinie in Brüssel, führen uns das eindrucksvoll und schmerzhaft jeden Tag aufs Neue vor Augen.
Das multimediale Grundrauschen im Netz hat aber auch noch eine andere, ganz praktische Konsequenz. Die Menge der genutzten Musik in Filmen hat sich dramatisch vervielfacht, da häufig allein schon der Einsatz von Musik mit dem Erzielen einer Wirkung und damit der Schaffung von Aufmerksamkeit gleichgesetzt wird. Frei nach dem Motto: „Viel hilft viel“. Dass die Vervielfachung der zu komponierenden Musikmenge sich in keinster Weise in den Musikbudgets wiederfindet und zudem zu einer dramatischen Abwertung des Minutenwertes der GEMA-Tantiemen führt, ist eine der spürbaren ökonomischen Folgen dieser Entwicklung. Ebenso gravierend ist für KomponistInnen, dass dadurch das Potential der Stille und die Kraft des Schweigens zunehmend übersehen werden. Musikdramaturgische und kompositorisch differenzierte Konzepte werden durch die schiere Menge der genutzten Musik immer häufiger verwässert oder im schlimmsten Fall bis zur Unkenntlichkeit nivelliert.
Dabei liegt in diesen Konzepten das größte Potential von Filmmusik. Auf ihrer Basis kann die Musik emotionale Grenzbereiche ausleuchten und Filmen helfen, gerade solche gesellschaftlichen Themen zu adressieren, die tabuisiert oder rational schwer zugänglich sind und daher im gesellschaftlichen Diskurs nur eingeschränkt statt finden.
Der wahre Wert von Filmmusik liegt in ihrem Wirkungspotential
Genau hier liegt auch der große Reiz für FilmkomponistInnen. Sie sind wesentlich verantwortlich für die emotionale Rezeption einer Geschichte und können das Gehirn des Publikums durch eine Hintertür erreichen. Die große Kunst ist dabei, die rationalen und emotionalen Anteile einer Botschaft in eine gute Balance zu bringen. So können FilmkomponistInnen mit ihrer Musik einen Film mit-erzählen.
Den gestalterischen Möglichkeiten sind selbstredend in der Praxis oft Grenzen gesetzt. Denn die Musik existiert nicht für sich allein. Sie wird für den Kontext des Films geschaffen und in ihm primär rezipiert. Wenn ein Film keine Tiefe oder Mehrdimensionalität hat, kann Musik sie nicht künstlich erzeugen. Man kann das täglich (und manchmal schmerzlich) im Kino und im Fernsehen erleben. Auch die Beachtung ethischer Grenzen wird in Zeiten von Fake News und der Reduktion des öffentlichen Diskurses auf einfache Schlagworte immer wichtiger. Das manipulative Potential von Musik im Film ist fast unbegrenzt und muss daher mehr denn je verantwortungsvoll genutzt werden.
Wir sind es, die die Herzen der Menschen berühren
In einem Beitrag für die GEMA könnte man meinen, der materielle Wert von Musik stünde im Fokus der Betrachtung. Dabei hat der Begriff der Wert-Schöpfung zwei Wortbedeutungen, die einander komplementär ergänzen: Werkschöpfer schöpfen neben einem materiellen Wert immer auch einen ideellen.
Zu wünschen wäre deshalb, dass letzterer wieder ins allgemeine Bewusstsein zurückkehrt und Filmmusik gleichermaßen als Ware wie als Kulturgut betrachtet würde. Dann hat sie - um es mit Ennio Morricone zu sagen - auch wieder etwas mit Komponieren zu tun. Und die Gesellschaft würde verstehen, was FilmkomponistInnen längst wissen: „Wir sind es, die die Herzen der Menschen berühren, nicht YouTube oder Amazon.“